Sigrid Haun –
Nachtstadt

Eine Studienreise in die BRD nutzt Sigrid Haun 1983 zur Flucht aus der DDR. Langsam faßt sie nach dem Verlust ihres Besitzes und künstlerischen Werkes in Düsseldorf Fuß. Das "Fenster", ein in Kriminalromanen ebenso gängiges Motiv wie in der Kunstgeschichte, ist seit langem Thema der Künstlerin. Dabei geht es ihr nicht um den spannenden Durchblick, das "Davor" oder das "Dahinter": "Es interessiert mich das scheinbar Unattraktive, wenn es mir nur genügend Anlaß bietet, einen malerischen Wert zu entdecken". So wirkt das Fenster, auf Glas und Rahmen reduziert, unspektakulär und farblos, aber seine Rechteckform oder Unterteilung durch ein Kreuz liefert ihr den Grund, statt lediglich Farbfelder zu malen, sich gegenstandsbezogen und abstrahierend auf Malerei einzulassen.

Nachtstadt

"Nachtstadt", 1994/96,
Acrylbinder, Pigmente auf Leinwand

Was Sigrid Haun reizt, ist die "Gratwanderung zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion" und das "Ausloten des Spannungsfeldes zwischen Flächigkeit und Räumlichkeit". Sie schafft bei der malerischen Gestaltung der transparenten Glasscheibe und der sie umgebenden Atmosphäre mit Farben Raum. Der Blick auf das Fenster von drinnen kehrt sich auf das "Fenster im Gegenüber". Das Bestreben nach "radikaler Vereinfachung" und "eigener Farbigkeit und Bildräumlichkeit" führt zum verzicht auf die Unterteilung der Rechteckform und zum Hell-Dunkel-Kontrast von Fenster und Umgebung.
Die Künstlerin ordnet auf dunklem Malgrund große und kleine Lichtvierecke oder -kreise in z. T. sich kreuzenden geraden, schrägen, geschwungenen oder wellenförmigen Rasterlinien rhythmisch an. Die scheinbar abstrakten Werke entpuppen sich als Außenansichten von Mehrfamilienhäusern in der Nacht mit erleuchteten Fenstern. Um die von ihr durch Farbschichtungen und Linienführung in den Bildern angelegte räumliche Wirkung noch zu vervollständigen, sucht Sigrid Haun "…nach Lösungen, die sich tatsächlich im Raum bewegen."

Eine Lösung ist die hier präsentierte aus vier Fassadengruppen bestehende "Stadt" von 1994-1996: Je fünf bis elf im Grundton aufeinander abgestimmte, auf 54 cm breite und 220 cm hohe Keilrahmen gespannt Leinwände werden in unterschiedlichen Winkeln aneinander und vor die Wände montiert. Mit dem Hochformat reagiert die Künstlerin auf die vorrangige Höhe von Bauten in der Großstadt. Mit dem Gefüge aus Stelen wird der Eindruck eines Stadtkomplexes, der Ansammlung von vor- und zurückspringenden Fassadenteilen verstärkt, der durch Anschnitte und Verschiebungen in der gemalten Architektur vorgegeben ist. Beleuchtete Fensterfronten wechseln ab mit reflektierenden, Nacht und Tag begegnen sich hier. Jeder Bau hat seine eigenen Dynamik, Rhythmisierung und Ausstrahlung dank variationsreicher Gestaltung und Gliederung. Einige helle Stelen würde man ohne Zyklusanbindung als monochrome Malerei, andere mit Streifen und Karomustern als reine Farbabstraktionen deuten, jedoch ergeben sich durch überspringende Lichtreflexe, farbliche Entsprechungen und zufällige Fortführungen von Fassadenbändern genug Bezüge zu benachbarte Gebäuden, daß sie als gleichartig empfunden werden. Mit dem mal transparenten, mal deckenden Übereinanderschichten von hellen und dunklen, warmen und kalten Farben und im Wissen um deren unterschiedliche räumliche Wirkung, versieht Sigrid Haun jedes Haus mit einem speziellen Gitterwerk von sich überlagernden Farbstreifen, verschafft ihm eine charakterisierende Plastizitität.
Hier ragen Balkons vor, ziehen sich Fensterreihen tief in den Baukörper zurück, dominiert die Horizontale. Da schieben sich vertikale Mauerabschnitte in den Vordergrund. Daneben fast plane Oberflächen, in denen Glas und Wand absatzlos ineinander übergehen.Eine komplexe Erfassung von Fassaden in ihrer Vielseitigkeit. Aber bei aller Lebendigkeit und Dynamik in ihrer Darstellung spricht die Künstlerin mit dem Zyklus spürbar auch die Monotonie und Anonymität in solchen Stadtteilen an. Trotz der Lichter fühlt man sich angesichts der hohen Häuser und der vielen Fenster weniger geborgen als allein. Doch - wegziehen?

© 2001 Elke Grapenthin



zu sehen bis um 24.02.2002 in der Ausstellung:
Wegziehen - der weibliche Blick auf Migration in Kunst und Wissenschaft, Frauenmuseum Bonn

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